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Durchblicken
lassen
Vitrinen sind zuallererst Medien, Vermittlungsinstanzen zwischen
Betrachter und Objekt. Sie ziehen eine Grenze und arbeiten zugleich
daran, diese Grenze vergessen zu machen. Eine Glasscheibe suggeriert die
greifbare Nähe des Exponats, verhindert aber zugleich den tatsächlichen
Zugriff. Allenfalls einige Fingerabdrücke auf der durchsichtigen
Fläche
verraten, daß jemand versuchsweise, aber vergeblich seine Hand
ausgestreckt hat. Mehr noch als Fotografie und Film - Fotos kann man
anfassen, im Film gibt es eine Tonspur - wirft die Vitrine den
Betrachter vollständig auf das Sehen zurück und schaltet Tast-
und
Gehörsinn aus. Sie schafft ihren eigenen, offenen und zugleich
abgeschlossenen Kosmos, eine meist stumme Welt der Sichtbarkeit. Was
fürs Auge. Guck mal, hier! Schau es dir von allen Seiten an. Laß
dir
Zeit. Aber: Look, don't touch. Man kennt diese ambivalente Struktur vom
heimischen Fernseher und hat sich längst daran gewöhnt, das
Vermittelnde
und Trennende des Mediums mitzudenken. Niemand würde naiv wie
Michel-Ange in Godards Film "Les Carabiniers" im Kino vorne
an der
Leinwand hochspringen, um über den Rand der Badewanne hinweg mehr
von
der badenden Frau zu sehen.
Die klassische Vitrine, hüfthoch und tischgroß, häufig
mit Filz
ausgelegt, gehört zum unverzichtbaren Inventar des Naturkundemuseums.
Sie dient dort als Ausstellungsort für Gesteinsproben, Mineralien
oder
ausgestopfte Tiere, deren Herkunft und Beschaffenheit mit
Schreibmaschine getippte Etiketten erläutern. Es riecht hier nach
19.
Jahrhundert, nach angestaubter Atmosphäre und Klassenfahrt. Man beisst
die Zähne zusammen und geht nur widerwillig mit. Mit ihrem Hang zur
gleichförmigen, auf Vergleichbarkeit angelegten Präsentationsform
kann
die Vitrine als Exponent des taxonomischen Denkens begriffen werden, das
die gefundenen Objekte systematisiert, ordnet und in standardisierter
Weise archiviert. Wie im Periodensystem finden die Elemente ihren Ort
und ihre genaue Systemstelle. Hier wird Wissenschaft ausgestellt, nicht
Kunst. Daß der Inhalt der Vitrine überhaupt ausstellungswürdig
ist,
stellt dabei zunächst einmal nichts anderes als eine Behauptung dar.
Eine Vitrine aufzustellen trifft also per se eine Aussage über
Wertigkeiten. Was hier gerahmt wird, das ist - in welcher Hinsicht auch
immer - etwas Besonderes, egal, ob es nun wertvoll, selten, exotisch
ist. Oder nichts von alledem.
In architektonischer Hinsicht ist die Vitrine eine nahe Verwandte des
Glashauses. In ihm haben sich während des 19. Jahrhunderts die Träume
der beginnenden Moderne materialisiert. Durch die neuartige Kombination
von Eisenträgern und Glasscheiben wurde es möglich, filigran
und solide
zugleich zu bauen. Man konnte - nicht zuletzt im Gefolge der
industriellen Revolution und dank der billigeren seriellen
Produktionsweise - nun monumentale Hallenkonstruktionen verwirklichen,
deren transparent-glänzende Oberfläche für Sonne und Licht
durchlässig
war und dabei Regen und Wind abwies. Die Glaspaläste waren Filter,
die
das Klima von seinen unangenehmen Anteilen reinigten und im Inneren eine
lichtdurchflutete, warme und manipulierbare Atmosphäre schufen. Aus
der
Vitrine wurde eine säkularisierte Kathedrale, die als weitläufiger
und
großzügiger Raum auch zum Herumspazieren einlud. Die von Walter
Benjamin
zur architektonischen Signatur des 19. Jahrhunderts erklärten Pariser
Passagen, die verschiedene Boulevards zu teils mehrere hundert Meter
langen regenfreien Zonen verbanden, stellen ein eindrucksvolles
Nebenprodukt dieser Bauweise dar. Am offenkundigsten jedoch äußert
sich
das neugewonnene Selbstbewußtsein der Glasingenieure im Pavillon
der
Londoner Weltausstellung von 1851, dem sogenannten Kristallpalast. Waren
die Passagen schon dem Namen nach als Durchgangsorte konzipiert, in
denen der Flaneur nichtsdestotrotz lange verweilen sollte, um möglichst
viel Geld gegen Waren einzutauschen (als Schaufenster sollen
Glasscheiben fast immer die Wunschproduktion des Betrachters anregen),
verweist der Londoner Pavillon auf eine andere Funktion, die das
Glashaus mit seinem Vorläufer, dem Gewächshaus, verbindet. Denn
in
beiden Fällen geht es darum, Entlegenes zusammenzubringen und in
einem
künstlichen Rahmen zu versammeln. Um einen Transfer der Dinge von
Dort -
Waren aus exotischen Ländern, Pflanzen aus ihrem fremdartigen
Heimatklima - nach Hier. Das Entscheidende liegt (im Gewächshaus
auch
buchstäblich) in der Transplantation: Fremdes soll vertraut werden,
Neuartiges greifbar. Die sonnige Seite des Imperialismus.
Das künstlich hergestellte Klima des Gewächshauses ist jedoch
auch ein
Hinweis darauf, daß im Glashaus eine Wirklichkeit zweiter Ordnung
erzeugt wird. Hinter den oftmals spiegelnden Scheiben, die das Bild des
Betrachters mit dem des Objektes verschmelzen lassen, spielt sich wie
im
Reagenzglas eine Simulation ab, ein artifizielles Nachspielen realen
Wachstums. Die Situation ist die des Experiments. Im Idealfall lassen
sich so auch die Geschmacksnerven des Endverbrauchers überlisten,
der
beherzt in die holländische Tomate hineinbeißt - auch oder
gerade weil
sie ihm spanisch vorkommt. Es geht also - und von hier aus ist erneut
der Schritt zum Film und zur Kunst allgemein nicht weit - um Illusion,
Täuschung und Machbarkeit.
In der Geschichte der Glasbauten ist meist nicht die Rede davon, daß
das
Gewächshaus auch mediengeschichtlich für die Entwicklung von
der Malerei
zum technischen Bild eine wichtige Rolle spielte. Schon bei der
Fotografie war man auf natürliches Licht (und zudem auf oft
stundenlanges Stillstehen der Fotografierten) angewiesen, um das äußerst
unempfindliche Filmmaterial ausreichend stark belichten zu können.
Erst
recht galt dies für die bewegten und flüchtigen Bilder des Films
-
zumindest in seiner im Studio gedrehten Form, die eng mit dem Namen
Georges Meliès verknüpft ist. Um witterungsunabhängig,
aber dennoch mit
natürlichem Licht arbeiten zu können, hatte Meliès, der
ehemalige
Zauberer und Begründer des Trickfilms, seine Filmateliers im Pariser
Vorort Montreuil in gigantischen Glashallen untergebracht. Dort drehte
er zwischen 1896 und 1913 Hunderte von Science Fiction-Filmen,
Zaubertricks, Burlesken und nachinszenierten Nachrichtenmeldungen.
Zumindest im übertragenen Sinne kann man den Film daher als ein
organisches Wesen ansehen, das ähnlich einer Pflanze nur durch
Sonneneinstrahlung wachsen konnte. Nicht zufällig läßt
sich der Begriff
der Photosynthese gleichermaßen auf eine pflanzliche Eigenschaft
und auf
den technischen Vorgang der Filmbelichtung beziehen: Bewegung und Leben
entstehen in beiden Fällen aus Licht - und unter Glas.
Ein Schwenk in die Gegenwart. In der Vitrine, in der Katrin über
mehrere
Monate hinweg Arbeiten von Freunden und Bekannten gezeigt hat, sind
diese Splitter einer Geschichte der Glasbauten allenfalls indirekt
präsent. Vielleicht können sie sogar eher als Negativ-Folie
dienen, von
der sich das Glashaus auf dem Gelände der HBK deutlich abhebt. Denn
schon ihrer Dimension nach unterscheidet sich die Vitrine in
Braunschweig von der klassischen Glasarchitektur. Als kleiner, aber doch
begehbarer Raum hat sie einerseits mit dem eben beschriebenen
Ausstellungsmöbel des Naturkundemuseums wenig gemeinsam; neben den
prunkvollen Kristallpalästen des 19. Jahrhunderts ist sie andererseits
mit ihrer Grundfläche von gut fünf Quadratmetern verschwindend
klein.
Doch außer dieser offenkundigen Differenz springen weitere Unterschiede
ins Auge: Wo auf der Londoner Weltausstellung vor hundertfünfzig
Jahren
stolz die Beutestücke expansiver Außenpolitik präsentiert
wurden -
letztlich Dokumente der Trennung und der Hierarchie -, geht es hier um
ein verbindendes, bescheidenes Projekt. Um die Möglichkeit, Einladungen
auszusprechen und persönliche Kontakte sichtbar zu machen. Die Vitrine
steht damit an der Schnittstelle von Privatem und Öffentlichem, von
Arbeitszusammhängen und Freundschaften. Daß sie eben nicht
im
hermetischen Raum des Museums, sondern an der Wegkreuzung zwischen
Kunsthochschule, Mensa und Bibliothek plaziert ist, gehört zum
ästhetischen Konzept und trifft eine deutliche Aussage: Kunst gilt
hier
nicht als abgeschlossener Kosmos, sondern als offener, an den sozialen
Alltag angekoppelter Bereich. So unterziehen die wechselnden
Ausstellungen "Unter Freunden" nicht nur das klassische Konzept
der
Vitrine einer Metamorphose, sondern verwandeln auch die Vitrine selbst
in immer neue Räume: Sie wird zum Badezimmer (Maria Hamprecht: susanne
am pool), zum blickdichten White Cube (Carsten Greife: kefir nights),
zur Morsestation, die ihre stumme Nachricht in die dunkle Nacht
hinaussendet (André Lemke: sie lieben dich, sie lieben dich nicht),
oder
zum multimedialen Experimentierlabor (Sarah Baker, Andy Hsu, Antonia
Low: cosmopolic charisma), das den grundsätzlichen Voyeurismus des
Betrachters spielerisch auf das technische Medium der Überwachungskamera
überträgt. Auch Matthias Vatters Installation "i walk the
line" greift
den Blick als die übliche Haltung gegenüber der Vitrine auf,
wenn er ihn
durch die Spiegel im Inneren der Papparchitektur bricht und damit die
Perspektive des neugierigen Besuchers verändert. Schon diese kurze
Zusammenstellung der bis Februar 2002 ausgestellten Arbeiten zeigt, daß
eines der oben genannten Kriterien der klassischen Vitrine, die
Vergleichbarkeit und genaue Einordnung in einen Wissenszusammenhang,
hier keine Rolle spielt. Ganz im Gegenteil: Die Vitrine ist hier nicht
der künstliche Rahmen, der die Objekte aufeinander beziehbar macht
und
nachträglich in eine vorher bestimmte Ordnung zwingt. Sie steht vielmehr
am Ausgangspunkt der Auseinandersetzung und stellt damit das erste
Mosaikteil künstlerischer Arbeit dar. Lediglich der Begriff des
"Experiments" könnte den Zusammenhang stiften zwischen
Naturwissenschaft
und Kunst, zwischen Reagenzglas und Vitrine.
An die Gedanken zur "Geburt des Films aus dem Geist des Gewächshauses"
erinnert ein anderer Aspekt, auch wenn er in den meisten Arbeiten für
die Vitrine keine Rolle spielt: Denn das Medium Video, das die Arbeiten
der Ausstellungsreihe dokumentiert und als ein Teil des "cosmopolic
charisma" aus der Vitrine herausstrahlt, reflektiert im Glashaus
gewissermaßen seine eigene Entstehung - ohne davon zu wissen. Ohne
Glashaus kein Film, ohne Film kein Video. Daß nur überraschend
wenige
Künstlerinnen und Künstler in ihren Arbeiten für die Vitrine
mit
Videotechnik arbeiten, mag darauf hinweisen, daß die Vitrine selbst
bereits als visuelles Medium wahrgenommen wird. Von konventionellen
Ausstellungsräumen wie dem Museum unterscheidet sich die Vitrine
auch,
was die unmittelbare Vorbereitungsphase der Projekte angeht: Hier gibt
es kein heimliches Aufbauen hinter geschlossenen Türen, die erst
am
Abend der Ausstellung geöffnet werden. Die Vitrine ist auch in dieser
Hinsicht ein öffentlicher Raum, der daher auch die vorbereitenden
Phasen
von Installation und Abbau mit all ihren technischen Schwierigkeiten
ausstellt. Künstlerische Produktion wird zum Prozeß. Wo Wissenschaft
und
klassisches Museum auf die Präsentation eines Produktes setzen, geht
es
hier darum, die Entstehung der Arbeit miteinzubeziehen.
Auf die Bar, die ab Juni in der Vitrine eingerichtet wird, darf man sich
schon jetzt freuen. Und darauf, dort - unter Freunden - anzustossen und
zu tief ins Glas zu blicken.
Volker Pantenburg
Berlin, April 2002
Kontakt: pburg@uni-muenster.de
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